Reproduktive Gesundheit – die Perspektive geflüchteter Frauen in der Schweiz

Bericht der Co-Forschenden

EINLEITUNG

Dies ist unser Bericht zum Projekt «REFPER. Reproduktive Gesundheit – die Perspektive geflüchteter Frauen in der Schweiz»

Der vorliegende kurze Bericht ist eine gemeinsame Arbeit von Co-Forschenden aus verschiedenen Ländern. Er wurde in einfachem Deutsch verfasst und gestaltet. Wir wollen damit eine Zusammenfassung der für uns wichtigsten Erkenntnisse aus diesem Projekt präsentieren.  

Menschen müssen aus vielen verschiedenen politischen und menschlichen Gründen ihre Länder und Familien verlassen und nach Europa flüchten. Deshalb steigt die Zahl der Geflüchteten in der Schweiz immer wieder. Es wurden viele Studien über allgemeine Geflüchtete gemacht, aber nur in wenigen wurde spezifisch über die Frauengesundheit gesprochen. Wir, geflüchtete Frauen und Co-Forschende des Forschungsprojekts REFPER, wollen dieses Thema zur Diskussion bringen. Wie werden geflüchtete Frauen hier aufgenommen? Wie wird mit ihren frauengesundheitlichen Bedürfnissen umgegangen? Was ist ihre Perspektive auf das Gesundheitssystem? Welche Erfahrungen machen sie im Gesundheitssystem in der Schweiz?

Dies ist unser Bericht zum Projekt «REFPER. Reproduktive Gesundheit – die Perspektive geflüchteter Frauen in der Schweiz», der Forschungsbericht findet sich auf dieser Webseite

WER WIR SIND

Wir sind Co-Forschende. Co-Forschende nennt man auch experts of experience: Wir bringen Expertise aus eigener Erfahrung mit. Wir alle sind in verschiedenen Ländern aufgewachsen und haben da gelebt. Aus verschiedenen Gründen sind wir in die Schweiz gekommen/geflüchtet, haben das Asylsystem durchlaufen und leben nun in der Schweiz. Die Flucht ist eine Erfahrung, aber nicht unsere Identität. Wir sehen uns als Teil der Gesellschaft, arbeiten in verschiedenen Berufen und haben einen unterschiedlichen Zivilstand. Einige von uns haben Kinder, andere nicht. 

ÜBER UNS

Nour Abdin aus Syrien 

  • Projektmitarbeiterin und Co-Forschende im Projekt REFPER
  • Bachelor in Erziehungswissenschaft in Syrien
  • ehemalige Co-Fachbereichsleiterin Bildung und Aktivitäten und Betreuerin im Bundesasylzentrum (BAZ) Bern
  • mehrere Jahre Erfahrung im Bereich Asyl und Migration
  • seit 2018 Dolmetscherin bei Comprendi Caritas, Bern
  • zurzeit Lehrerin und Mitarbeiterin in der sozialpädagogischen Prävention

Laila Sarrar aus Jemen

  • Bachelor-Abschluss in Englischer Literatur
  • Teilnahme an einer internationalen Schulung zum Thema Frauen in bewaffneten Konflikten, UN-Resolution 1325
  • feministische Menschenrechtsaktivistin im Bereich Menschen- und Frauenrechte
  • Mitarbeit in internationalen Organisationen in Genf, bei der Women’s International League for Peace and Freedom (Wilpf), Bern und bei der feministischen Friedensorganisation FRIEDA 
  • Arbeitet im Bereich Migration und Asyl

Elif Gökalp aus der Türkei

  • Abschluss an einer Gesundheitsschule sowie Bachelor in Pflegewissenschaften in der Türkei
  • seit 2018 in der Schweiz, arbeitet als Pflegehelferin in einem Pflegeheim (das Anerkennungsverfahren ihres Diploms wird noch bearbeitet)

Tahmina Taghiyeva aus Aserbaidschan 

  • aus Aserbaidschan (42 Jahre alt, ledig) 
  • wohnt seit 2015 in der Schweiz, B-Ausweis 
  • Master-Studium Public Management & Policy (Uni Bern); Masterarbeit zum Thema geflüchtete Frauen und Schutz vor Gewalt 
  • keine Kinder
  • Journalistin und Menschenrechtsaktivistin
  • Leiterin des Projekts «Stimmen geflüchteter Frauen»
    bei Brava

Fatma Leblebici aus der Türkei

  • BWL-Absolventin und Grundschullehrerin in der Türkei 
  • früher Betreuerin für unbegleitete minderjährige Asylsuchende
  • seit 2018 Projektverantwortliche bei Brava 
  • Flucht in die Schweiz aufgrund ihrer Aktivität in der kurdischen Frauenbewegung
  • Expertise in den Bereichen Asyl/Migration und geschlechtsspezifische Gewalt

Saba Solmon aus Eritrea

  • 2012 geflüchtet 
  • Highschool-Abschluss
  • in Eritrea im Bereich Auto-Reparatur(-Service) / Autoersatzteilverkäuferin und als Büromitarbeiterin tätig 
  • in der Schweiz Ausbildung zur Assistentin Gesundheit & Soziales EBA
  • beruflich im Asylbereich tätig

Die Projektleiterin Milena Wegelin hat uns Co-Forschende im Kontext des Forschungsprojekts REFPER zusammengebracht. Sie hat uns auch im Schreiben dieses Berichts unterstützt. 

UNSERE MOTIVATION

Das Thema des Forschungsprojekt betrifft uns, die Co-Forschenden, weil wir oft die gleichen Erfahrungen gemacht haben. Wir alle sind selbst betroffen von den Schwierigkeiten des schweizerischen Asylsystems. Einige von uns begleiten beruflich auch geflüchtete Frauen, die diese Schwierigkeiten jetzt erleben. Und da kaum etwas verbessert wird, waren wir motiviert, in diesem Forschungsprojekt mitzuarbeiten und unsere Erfahrungen sowie unsere Gedanken mit allen zu teilen.

Seit Langem ist uns bewusst, dass das Thema reproduktive Gesundheit wichtig ist, aber nicht so viel darüber gesprochen wird. Und dass Studien zum Thema nur mit/durch Fachpersonen gemacht werden. Die Perspektiven der geflüchteten Frauen sind aber zentral und wichtig. Die Forschungen in diesem Bereich sollten mit geflüchteten Frauen gemacht werden. Es sollte nicht einfach so über sie geschrieben und gesprochen werden.  

Und darum haben wir gemeinsam unser Ziel definiert: Wir wollten die Stimmen der geflüchteten Frauen transportieren, damit nicht nur die Fachpersonen gehört werden, sondern auch die Betroffenen. Und wir wollten die Wissenschaftler*innen nicht allein arbeiten lassen. 

Wir wollten die Themen Frauengesundheit, Familienplanung, fehlende Geschlechtsperspektive im Asylkontext sowie reproduktive Gerechtigkeit in die Gesellschaft tragen und dafür kämpfen, dass irgendwann Änderungen im System stattfinden.

UNSERE ROLLE IM REFPER-PROJEKT

Als Begleitgruppe von geflüchteten Frauen haben wir als Co-Forschende in Workshops den Forschungsprozess und die Datenanalyse begleitet. Während der Sitzungen haben wir die Interviews der geflüchteten Frauen gelesen, uns zu Zitaten ausgetauscht und wichtige Themen herausgesucht. Für die Analyse haben wir auch unsere Erfahrungen geteilt und die Zitate aus den Interviews aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert. 

UNSERE ERKENNTNISSE DURCH DIESE ARBEIT

Frauengesundheit nicht im Fokus

Familienplanung im Fluchtkontext

Zugang zu Information über Verhütung und Zugang zu Verhütungsmitteln

Erfahrungen im überschneidenden
System

Reproduktive Gerechtigkeit (Sexualität und Mutterschaft)

Ankunft in der Schweiz: «Frauengesundheit fällt aus dem Fokus»​

Geflüchtete Frauen kommen mit ihrem Rucksack voll mit Problemen und schlimmen Erfahrungen in die Schweiz. Sie befinden sich gleich nach ihrer Ankunft in verschiedenen Asylzentren, welche die Bedürfnisse der Frauen und im Speziellen ihre Gesundheitsbedürfnisse nicht decken. Die Infrastruktur der Camps beeinflusst zusätzlich die Frauengesundheit. Es gibt zum Beispiel wenig geteilte Toiletten und wenig Rückzugsraum für Frauen.  

Bei der Ankunft im Camp wird die erste medizinische Befragung durchgeführt. Von den Pflegefachpersonen wird einzig die Frage, ob eine Frau schwanger ist oder nicht, systematisch gestellt. Und für die geflüchteten Frauen gibt es nicht genügend Zeit und Raum, um über ihre frauengesundheitlichen Probleme zu reden. Viele haben dann noch nicht die Energie und die Kraft dazu. Es gilt auch zu bedenken, dass sie dann bereits Angst vor dem ganzen Asylsystem haben. Geflüchtete Frauen sind unsicher in ihrer Situation: Habe ich einen Transfer in ein anderes Camp oder nicht? Was sind meine Rechte? Darf ich sagen, wie es mir geht, oder nicht? Wird mir zugehört und werde ich ernst genommen oder ausgelacht? Ist meine Frage dumm? Wie kann ich meine Gefühle beschreiben? Aufgrund solcher Unsicherheiten haben die Frauen kein Vertrauen und keine Sicherheit.

Gerade für Themen der Frauengesundheit braucht es aber eine vertrauliche Atmosphäre sowie professionelle und sensibilisierte Fachpersonen. In den Asylzentren des Bundes sind jedoch viele Fachpersonen gestresst und haben keine Zeit dafür. Sie sind nicht immer sensibilisiert. Viele Pflegefachpersonen denken vor allem an Krankheiten. Zum Beispiel haben gynäkologische Probleme aus ihrer Sicht oft keine Priorität. Zudem ist der Zugang zu Dolmetschdienstleistungen nicht gewährleistet.

Viele der geflüchteten Frauen machen daher in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft in der Schweiz die Erfahrung, dass ihre Gesundheit als Frau nicht die nötige Aufmerksamkeit erhält. Frauenrechte werden vergessen, Frauenbedürfnisse werden nicht ernst genommen.

Familienplanung im Fluchtkontext

Einige geflüchtete Frauen haben die Hoffnung, dass die Schweiz ein sicheres Land ist. Dass es daher günstig ist, hier ein Kind auf die Welt zu bringen. Einige wollen aber auch studieren und arbeiten. Einige wollen beides zusammen machen. 

Die Ankunft in der Schweiz bedeutet aber nicht, in Sicherheit zu sein. Nach der Ankunft sind viele der geflüchteten Frauen eher in einem Zustand der Unsicherheit. Denn das Ergebnis des Asylverfahrens ist nicht klar und die Dauer des Aufenthalts in einem Camp auch nicht. 

Die Enttäuschung entsteht schon bei der Ankunft, wegen der Unsicherheiten und weil die Bedürfnisse der Frauen nicht immer ernst genommen werden. Daher wollen viele Frauen eine Schwangerschaft während der Zeit im Camp vermeiden. Denn schwanger sein ist dort schwierig – und Mutter sein auch. So finden sich viele Frauen in einer schwierigen Situation. Diese beeinflusst ihre Entscheidungen, ein Kind zu kriegen oder nicht. 

Hinzu kommt, dass Wissen um Verhütung und Verhütungsmittel nicht immer vorhanden ist. Für die Frauen ist nicht klar, wo sie diese Informationen bekommen. Wenn keine Informationen da sind, suchen sich die Frauen Informationen über Google und Bekannte. Das fördert Unsicherheiten und auch Ängste über Verhütungsmittel und deren Wirkungen. 

Zugang zu Verhütungsmitteln

Während Schwangerschaftsabbrüche von der Krankenkasse bezahlt werden, müssen die Kosten für Verhütung in der Schweiz von den Menschen selbst getragen werden. In der Sozialhilfe werden die Kosten dafür nicht immer übernommen. Für geflüchtete Frauen in schwierigen Situationen bestehen Barrieren: In den Asylstrukturen werden Kondome kostenlos abgegeben. Es ist aber notwendig, dass beide Partner diesbezüglich dieselbe Haltung haben. Männer sind nicht immer einverstanden mit der Verhütung mit Kondomen. Deshalb ist es noch wichtiger, dass Frauen Zugang zu Verhütungsmitteln haben. Aber abgesehen von Kondomen werden Verhütungsmittel nicht immer abgegeben und finanziert. Auch fehlen in Camps manchmal weibliche Ansprechpersonen. Und manchmal fehlt die vertrauliche Situation. Das macht das Reden über Verhütung noch schwieriger. 

Es ist wichtig zu erwähnen, dass es für viele geflüchtete Frauen schwierig ist, Informationen über Verhütungsmittel zu bekommen. Auch ist es schwierig zu verstehen, welche Beratungsstellen es gibt, um sich zu beraten lassen. Zum Beispiel kennen viele geflüchtete Frauen die «Pille danach» nicht. Die ganze Situation macht den Zugang von geflüchteten Frauen zu einer selbstbestimmten und frauenzentrierten Verhütung in der Schweiz schwierig. 

Erfahrungen im überschneidenden System

Die Gesundheitsversorgung geflüchteter Frauen wird von den Asylstrukturen beeinflusst. Die gesundheitlichen Probleme dieser Frauen werden oft nur dann behandelt, wenn sie dies einfordern. Die Frauen können nicht direkt zu einer ärztlichen Fachperson gehen. Sie müssen sich zuerst bei den Pflegefachpersonen melden. Diese entscheiden dann, ob die Geflüchteten zu einem Arzt dürfen oder nicht. Es ist wichtig zu erwähnen, dass manche Pflegefachpersonen wenig Verständnis und Sensibilität für die gesundheitlichen Probleme von geflüchteten Frauen haben. Oft muss auch zuerst ein Gesuch gestellt werden, um zu prüfen, ob die Behandlung finanziert wird. Dieses Türstehersystem und die Fragen der Finanzierung beschränken den Zugang zum Gesundheitssystem.

Das heisst, dass die Frauen für ihre reproduktiven Rechte kämpfen müssen. Nicht alle haben aber die Kraft dafür. Falls sie es doch schaffen, ihre gesundheitlichen Probleme zu äussern, werden sie von Fachpersonen nicht immer ernst genommen. Manchmal wird geflüchteten Frauen das Gefühl gegeben, dass ihre Fragen als «dumm» wahrgenommen werden. Deshalb stellen die Frauen keine Fragen mehr. So kann es sein, dass bei geflüchteten Frauen von Anfang an kein Vertrauen zu Fachpersonen besteht. Die Erfahrungen in der ersten Zeit wirken nach: Auch später spüren Frauen diesen Stempel als «Geflüchtete».

Deshalb haben viele geflüchteten Frauen mehr Vertrauen zu Fachpersonen mit Migrationserfahrung. Aus ihrer Sicht haben diese ein besseres Verständnis für Geflüchtete. 

Reproduktive Gerechtigkeit in Camps

Das Leben in Camps ist für geflüchtete Frauen schwierig. In Camps ist es schwierig, 

  • nicht schwanger zu werden, wenn es keine Unterstützung in Verhütungsfragen gibt und keinen Zugang zu Verhütungsmitteln;
  • schwanger zu sein, weil die Infrastruktur für die Frauen schwierig ist und ihren Bedürfnissen nicht entspricht; 
  • Mutter zu sei, weil ein Camp kein sicheres und gesundes Umfeld für Kinder ist; zudem ist die Infrastruktur weder frauen- noch kindgerecht;
  • Sexualität zu leben, denn im Camp gibt es dafür kaum Raum.

 

 Weil sich die Frauen in den Camps in dieser schwierigen Situation befinden, können sie nicht immer frei darüber entscheiden, ob sie Kinder bekommen wollen oder nicht. Dies beeinflusst also auch ihre reproduktiven Rechte.

Der Ansatz der reproduktiven Gerechtigkeit verbindet die Lebenssituation von Frauen mit ihrer reproduktiven Gesundheit. Damit lässt sich die Situation von geflüchteten Frauen gut beschreiben. Es genügt nicht, nur den Zugang zur Gesundheitsversorgung und zu Familienplanung/Verhütung zu verbessern. Es geht auch darum, die Situation in den Camps zu beachten. Und zu verstehen, welchen Einfluss diese Situation auf die Gesundheit der Frauen und auf die Familienplanung hat. 

DAS WOLLEN WIR ERREICHEN:

  • Die Frauenbedürfnisse im Asyl- und Migrationsbereich sollen berücksichtigt und ernst genommen werden.

  • Die Gesellschaft muss wissen, wie die geflüchteten Frauen in Camps leben. Sie muss wissen, welche Probleme und Schwierigkeiten diese Frauen haben. 

  • Die Stimme der geflüchteten Frauen soll auch von den Personen in den verantwortlichen Stellen gehört werden. 

  • Wir wollten das Thema reproduktive Gerechtigkeit zur Diskussion bringen. 

  • Reproduktive und sexuelle Rechte müssen in den Asylzentren gelebt werden können.

  • Damit wir alle Leute erreichen – auch die, die kein super Deutsch sprechen – haben wir diesen Text geschrieben. 

Dieser Bericht ist auch ein Hinweis auf die Forschung REFPER:
https://www.bfh.ch/de/forschung/referenzprojekte/reproduktive-gesundheit/